Die unbekannten Schicksale dem Vergessen entreißen
Am Dienstag den 6. Mai hat das Autonome Schwulenreferat im AStA der
Universität Osnabrück, im Rahmen der Schwul-Lesbischen Kulturtage Gay
in May, zur Gedenkveranstaltung für die homosexuellen Opfer des
Nationalsozialismus eingeladen.
Am frühen Abend dieses Tages versammelten sich bei vorsommerlichem
Wetter beinahe 50 Personen am den Opfern für Wahrheit und Freiheit
gewidmeten Mahnmal von Gerhard Marcks an der Kunsthalle
Dominikanerkirche, um sich an der Gedenkstunde zu beteiligen.
Zur Begrüßung wurde betont, wie wichtig es ist die meist namenlosen
und unbekannten Schicksale der Normalität des Vergessens zu entreißen
und auch heute darauf zu achten, dass die sexuelle Orientierung eines
Menschen respektiert und dieser ob lesbisch, schwul oder transgender
nicht Diskriminierungen ausgesetzt ist.
Gerade mit Blick auf die aktuelle Verlegung von Stolpersteinen in der
Friedensstadt war Rainer Hoffschildt aus Hannover nach Osnabrück
eingeladen. In seiner Gedenkrede stellte der Wissenschaftler, der seit
Jahrzehnten die Zahlen und Schicksale Homosexueller aus
Norddeutschland erforscht und als Beirat in der Stiftung
niedersächsischer Gedenkstätten tätig ist, die Geschichte der
Homosexuellenverfolgung dar, um im Besonderen auf den
Nationalsozialismus einzugehen. In dieser Zeit mussten alle Schwulen
und Lesben in Angst leben und waren in der freien Entfaltung ihrer
Persönlichkeit gehindert. Tausende Schwule fanden bis 1945 in
Konzentrationslagern der Nazis durch „Vernichtung durch Arbeit“ oder
in Zuchthäusern den Tod.
Hoffschildt erläuterte aber auch, dass es noch in der Bundesrepublik
zur strafrechtlichen Verfolgung Homosexueller kam.
Von 1871 bis 1994 sei es zu rund 140.000 Verurteilungen aufgrund der
verschiedenen Paragraphen 175 gekommen, darunter zu 80 % aufgrund der
Nazi-Fassungen, die noch bis 1969 Bestand hatten. Von der Möglichkeit
einer Entschädigung wurden Schwule zunächst gesetzlich und später
durch die gesellschaftlichen Randbedingungen faktisch ausgeschlossen.
Die Aufarbeitung der historischen Schuld an den Schwulen wurde von
Historikern jahrzehntelang gemieden und ist bisher nur ansatzweise
gelungen. „Totgeschlagen – totgeschwiegen“ ließen die Vertreter der
Opfergruppe der Schwulen Mitte der 1980er Jahre in die Gedenksteine
einmeißeln, die nach jahrelangem Hinhalten erstmals gesetzt werden
durften. 1994 wurde schließlich der § 175 gänzlich gestrichen.
Hoffschildt machte deutlich, dass über NS-Opfer mit Bezug zu Osnabrück
bisher nicht systematisch geforscht worden ist.
Trotzdem fand er Schwule aus Osnabrück über die nur wenig bekannt ist:
Der Schweißer Hans Butler, der Matrose Rudolf Kruse, der Arbeiter
Gerhard Möller, der polnische Arbeiter Ignaz Slitz hatten ihr
Schicksal mit der Hasestadt verbunden und starben durch den
Nationalsozialismus.
An einer weiteren Person aber wurde der ganze Terror des NS-Regimes
aufgezeigt: „Der gelernte Schuhmacher Johann Georg Fluhrer wurde 1899
in Bayern geboren. Nachbarn denunzierten bereits 1930 sein Schwulsein,
die Angaben reichten aber nicht für eine Verurteilung.
Ab 1935 lebte er in Osnabrück und 1937 verurteilte ihn die hiesige
Große Strafkammer wegen eines ‚Vergehens nach § 175 StGB‘, eines
‚fortgesetzten vollendeten Verbrechen nach § 175a Ziffer 3 StGB‘ und
dreier ‚versuchter Verbrechen nach § 175a Ziffer 3 StGB‘ zu zwei
Jahren und sechs Monaten Zuchthaus. Im Urteil wird auch erwähnt, dass
er mit mehreren Unbekannten ?Unzucht? getrieben habe. Dies zeigt, wie
stark der Zwang zu konspirativem und anonymen Verhalten seinerzeit
war. Mit dem ‚fortgesetzten vollendeten Verbrechen nach § 175a Ziffer
3 StGB‘ kann nur der sechs- bis achtmalige ‚Mißbrauch‘ des noch nicht
21jährigen N. gemeint sein, also möglicherweise eine längere
Freundschaft, die besonders streng bestraft wurde. Das Gericht meinte,
dass ‚wegen der großen Zahl der […] unter den widerlichsten
Umständen ausgeführten Sittlichkeitsverbrechen […] eine harte
Bestrafung nötig‘ sei.
Auch im Zuchthaus Hameln, in das man ihn transportierte, wurde er zum
Ende seiner Haft ungünstig beurteilt: ‚… Fluhrer … ist ein
haltloser Charakterschwächling […] Er ist homosexuell veranlagt und
weiß selbst, daß er von seinem Laster nicht lassen kann. Ein Rückfall
ist zu befürchten.‘
Freigelassen ging er 1940 nach Fürth und der zuständige
Kriminalkommissar von der Vaganten-, Sitten- und Bettlerpolizei der
Kripo Fürth plädierte dafür, ‚… Fluhrer zum Schutze der Jugend
zumindest unter polizeilich planmäßige Überwachung zu stellen und in
schärfster Weise durchzuführen.‘ So geschah es. Dazu gehörten folgende
Auflagen: Er durfte die engere Wohnumgebung nicht verlassen, musste
zwischen 22 und 5 Uhr in seiner Wohnung sein, durfte keine männlichen
Personen in die Wohnung mitnehmen, musste Wohnungs- oder
Arbeitswechsel der Polizei melden und sich jeden ersten Samstag im
Monat persönlich bei der Polizei melden. Außerdem lagerte ein
Hausschlüssel bei der Polizei.
Im Oktober 1943 stahlen zwei Jugendliche seine Brieftasche. Sie wurden
in Innsbruck gefasst und bei dem einen wurde eine Postkarte
unterzeichnet ‚Dein Freund Fluhrer‘ gefunden. Die Polizei kam nun zu
der Überzeugung: Es ‚… mußte angenommen werden, daß er …
widernatürliche Unzucht getrieben hat, doch gelang es bisher nicht,
ihm dieses nachzuweisen. Um einer weiteren Gefährdung Jugendlicher
vorzubeugen, wurde Fluhrer am 4.11.43 in das Polizeigefängnis Nürnberg
eingeliefert. Ob er gebessert werden kann, ist fraglich.‘
Auf diesen bloßen Verdacht hin transportierte man ihn nun im Januar
1944 in das KZ Buchenwald. Einen Monat später war er wieder in
Nürnberg, offenbar hatte man doch noch Belege gefunden. Das
Sondergericht Nürnberg machte kurzen Prozess. Es fällte am 29. Februar
1944 wegen ‚widernatürlicher Unzucht‘ sein Todesurteil und bestimmte
seinen ‚Ehrverlust auf Lebenszeit‘. Er kam nun in das KZ Mauthausen,
wo er am 24. März 1944 hingerichtet wurde.“
Diese schreckliche Geschichte kann zwar nie wieder gut gemacht werden,
aber die Erinnerung kann eine emotionale Bindung herstellen. Ein
Stolperstein für Fluhrer oder Menschen wie ihn kann ebenso ein
bedeutender Teil der Anerkennung der Leidensgeschichten durch die
Öffentlichkeit sein.
Zum Ende der Veranstaltung wurden von den Osnabrücker Schwulen- und
Lesbengruppen Kränze am Mahnmal niedergelegt und in einer
Schweigeminute den Opfern gedacht.